“Bei Bürgerentscheiden ist der Bürger König” – Interview mit Edgar Wunder

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Von Martin Strohal | 01.09.2017 22:15 | 1 Kommentar

Bei der Vorbereitung des Bürgerbegehrens wurde die Bürgerinitiative “Lachwald erhalten” von Dr. Edgar Wunder vom Verein Mehr Demokratie e.V. beraten und unterstützt. Wunder ist Landesvorsitzender des Vereins in Baden-Württemberg. meinstutensee.de hat ihn befragt.

meinstutensee.de: Herr Wunder, was ist Ihre Rolle beim Bürgerbegehren “Lachwald erhalten” in Stutensee?

Edgar Wunder: Mehr Demokratie e.V. berät sowohl Gemeindeverwaltungen wie auch Bürgerinitiativen zu Verfahrensfragen im Umgang mit Bürgerbegehren. Im aktuellen Fall Stutensee hat sich die Bürgerinitiative an uns gewandt mit der Bitte, bei formalrechtlichen Fragen der Ausformulierung des Bürgerbegehrens zu beraten und gegenüber der Stadtverwaltung zu vermitteln.

Sie haben Erfahrungen mit anderen Bürgerbegehren. Wie verlief und verläuft im Vergleich dazu Ihr Kontakt zu den Vertrauenspersonen des Stutenseer Bürgerbegehrens auf der einen und der Stutenseer Stadtverwaltung auf der anderen Seite?

Allein im Kalenderjahr 2017 waren wir bis jetzt bei gut 60 Bürgerbegehren in Baden-Württemberg beratend tätig. Jeder Fall hat seine ganz eigenen Besonderheiten. In Stutensee war ungewöhnlich, dass die Stadtverwaltung nur zu einer schriftlichen Kommunikation über den Entwurf des Unterschriftenformulars bereit war. So dauerte es letztlich über einen Monat, bis die Auskünfte in umfangreichen Schriftwechseln soweit konkretisiert waren, dass der endgültige Wortlaut des Bürgerbegehrens festgelegt werden konnte. Bei einem persönlichen Gespräch, wie das in anderen Gemeinden üblich ist, geht so etwas schneller und unkomplizierter.

Gab es besondere Herausforderungen beim Lachwald-Bürgerbegehren?

Die Stadtverwaltung hat außergewöhnlich viel Wert auf eine Formalie gelegt, die nach der Zulassung des Bürgerbegehrens gar keine Rolle mehr spielen wird: auf die Ausarbeitung eines detailreichen und haushaltsrechtlich korrekten „Kostendeckungsvorschlags“. Über ihn wird beim Bürgerentscheid weder abgestimmt noch braucht sich die Gemeinde an solche Vorschläge zu halten. Dennoch kann bei formalen Mängeln in diesem „Vorschlag“ die Zulassung des gesamten Bürgerbegehrens verweigert werden. Deshalb musste hier mit besonderer Sorgfalt vorgegangen werden.

Sollte der Gemeinderat das Bürgerbegehren für nicht zulässig erklären, wie wäre Ihr weiteres Vorgehen?

Der Gemeinderat hat hier keinen Ermessensspielraum. Er ist gesetzlich verpflichtet, ein ordnungsgemäß gestelltes Bürgerbegehren für zulässig zu erklären und es dann entweder inhaltlich zu übernehmen oder einen Bürgerentscheid anzusetzen. Nach meinem Dafürhalten wurde dieses Bürgerbegehren ordnungsgemäß formuliert und eingereicht. Bei einer Verweigerung der Zulassung könnte jede Person, die das Bürgerbegehren unterschrieben hat, Widerspruch bei der Kommunalaufsicht bzw. Klage beim Verwaltungsgericht einreichen. So könnte der Gemeinderat am Ende doch zu einem Bürgerentscheid gezwungen sein. Oder alle Seiten suchen einen Kompromiss.

Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten des Bürgerbegehrens ein?

In der Sache hätte das Bürgerbegehren Erfolg, wenn der Gemeinderat seinen Beschluss zur Bebauung des Lachwalds zurücknimmt oder – falls dies nicht geschieht – der Verzicht auf eine Bebauung mehrheitlich bei einem Bürgerentscheid beschlossen wird, wodurch der Gemeinderatsbeschluss nichtig wäre. Wer sich bei einem Bürgerentscheid mehrheitlich durchsetzen würde, kann ich nicht beurteilen. Dafür fehlen mir als Auswärtigem die Ortskenntnisse. Mehr Demokratie e.V. verhält sich zur strittigen Sachfrage auch grundsätzlich neutral.

Für Stutensee ist das das erste Bürgerbegehren. Wie stark wird dieses Instrument von Bürgern in Baden-Württemberg genutzt und wie kommen die Verwaltungen, die sich zum ersten Mal damit konfrontiert sehen, damit zurecht?

Seit 1956 hat es in Baden-Württemberg insgesamt genau 508 Bürgerentscheide und über 1000 Bürgerbegehren gegeben. Das ist ein reicher Erfahrungsschatz. Bürgerentscheide können Konflikte befrieden, denn der Mehrheitswillen der abstimmenden Bevölkerung wird in der Regel von so gut wie allen akzeptiert. Bei Bürgerentscheiden ist der Bürger König. Eine solche Erfahrung ist geeignet, das kommunalpolitische Interesse zu fördern und Politikverdrossenheit abzubauen. Davon profitieren letztlich auch Gemeindeverwaltungen und Kommunalpolitiker. Auch wenn es sich zunächst einmal ungewohnt anfühlt, dass nicht der Gemeinderat, sondern die Bürgerschaft insgesamt etwas entscheidet.

Sie arbeiten für den Verein “Mehr Demokratie”. Welche Aufgaben hat der Verein außer dem Begleiten von Bürgerbegehren?

Mehr Demokratie e.V. hat heute 10000 Mitglieder und setzt sich für verbesserte Möglichkeit der Bürgermitbestimmung und Bürgerbeteiligung auf allen politischen Ebenen ein. Zum Beispiel aktuell für Einführung der Möglichkeit von bundesweiten Volksentscheiden.

Vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!

forum Kommentare

Ein wirklich toller informativer Beitrag. Herr Dr. Wunder erklärt alles leicht verständlich, und so kompliziert, wie manche tun, ist das ganze ja offensichtlich nicht.
Auch, dass der Gemeinerat keinen Ermessensspielraum hat, ist manchem bislang nicht so klar gewesen, aber um so erfreulicher!
Dass Herr OB nicht persönlich zu sprechen war, ist typisch. Entweder kann oder traut er sich nichts selbst zu entscheiden, oder er lebt im Tal der Ahnungslosen. Das wird durch den heutigen Artikel in der BNN wieder nachhaltig bestätigt! Jetzt muss er sogar den Ältestenrat um Hilfe bitten. Ich wette die meisten Bürger wussten bislang gar nicht, dass es den gibt und wozu der denn gut ist.
Ist es wirklich so schwer vom hohen Ross zu steigen und ernsthaft auf die Bürger zuzugehen? Langsam wird es wirklich peinlich für die Bürgermeister und die Mehrheit des Gemeinderats!