“… und dann fuhren wir einfach mit unseren Rädern über den Todesstreifen”

Von Olaf Matthei-Socha | 09.11.2019 10:00 | Keine Kommentare

1989 – 2019. 30 Jahre Mauerfall (Olaf Matthei-Socha)

2019 jährt sich der Fall der Berliner bereits zum 30. Mal. Nur kurze Zeit später waren die DDR und West-Berlin ein Stück Geschichte. Schon im August beschloss die Volkskammer den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland, der bereits am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.

meinstutensee.de hat seine Leserinnen und Leser sowie einige ausgewählte Personen in Stutensee gefragt, wie sie sich an diesen bedeutenden Abend erinnern. Wo waren sie damals? Auf welcher Seite der Grenze? Welche Gedanken gingen ihnen damals durch den Kopf, welche Gefühle hatten sie?

Heute am 9. November erscheint der letzte Teil unserer Sonderreihe mit einem Beitrag von Olaf Matthei-Socha.


Olaf Matthei-Socha

Kindheit in einer eingeschlossenen Stadt

Unglaublich irgendwie, dass ich das miterlebt haben soll. Unglaublich, dass schon so viele Jahre vergangen sein sollen. Manchmal frage ich mich, ob das alles nicht nur ein Traum war. Bis heute sitzen die Wunden einfach zu tief. Die Schnittwunden, die dieses Bauwerk ganz real in das Leben meiner Familie und in mein eigenes gefressen hat. Schier unüberwindlich war sie. Sie. Die Berliner Mauer. Sie, das war nicht nur eine 3,60 Meter hohe Betonwand. Das waren zwei Wände mit dem „Todesstreifen“ dazwischen. Selbstschussanlagen, Beobachtungstürme, gleißende Scheinwerfer, Kfz-Sperrgraben, Männer mit Maschinenpistolen und Schäferhunden. Stacheldraht. Kein Durchkommen. Von keiner Seite. Kindheit in einer eingeschlossenen Stadt.

Egal in welche Richtung wir damals fuhren. Spätestens an der Mauer war für uns die Reise zu Ende. Rauskommen? Nur wenn man Geld für einen Urlaub oder Verwandte im Westen hatte. Und auch dann nur kurz, um die restlichen 330 Tage des Jahres wieder im selben Großraumgefängnis zu verbringen. Von wegen „Fenster in die Freiheit“… Dann war da die Fluchtgeschichte meiner Mutter und ihrer Familie aus der DDR, die ihr bis heute Angstträume bereitet. Und vor allem die Anwesenheit der Alliierten. Immer Soldaten auf dem Schulweg, Panzer, der Vier-Mächte-Status erlaubte keine Zugehörigkeit zur Bundesrepublik, die Todesstrafe galt formal noch bis Ende der 1980er Jahre, Luftschutzübungen in der Schule, über unseren Köpfen durchbrachen sowjetische MiGs regelmäßig die Schallmauer, dass unsere Teller im Schrank klirrten… immer diese unterschwellige Angst… 

Aus dem Familienarchiv: Urgroßvater, Vater und Onkels des Autors kurz nach dem Beginn des Mauerbaus am Potsdamer Platz in West-Berlin.

In dieser Situation hatte damals niemand von uns erwartet, dass sich irgendetwas bewegen, ja sogar die Grenzkontrollen und die Visumspflicht aufgehoben werden würden. Sicherlich, das massenhafte Ausreisen von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern über Ungarn und die Tschechoslowakei, die Montagsdemonstrationen, all das verfolgte ich als frischgebackener Gymnasiast der siebten und achten Klasse wie gebannt, nahm den Walkman meiner Mutter mit Radiofunktion als „Dauerleihgabe“ in Beschlag, um überall auf dem Laufenden zu bleiben. Im Urlaub in Holstein sah ich mir jede Sondernachrichtensendung vom heißen europäischen Sommer an, während die anderen draußen beim Baden waren. Das konnte doch alles nur in einem neuen Krieg enden…

Das kürzeste Training aller Zeiten

So wollte ich es auch erst einmal gar nicht glauben, als ich am zweiten Novemberdonnerstag 1989 abends zum Fechttraining in die Schule lief und wie immer damals Radio hörte. Im SFB kam in den Nachrichten der Mitschnitt von der Pressekonferenz des ZK der SED. Schabowskis Stammeln zur Einführung der Reisefreiheit für die Einwohner der DDR: „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist sofort, unverzüglich“. Dazu der Kommentar des Moderators, dass die „Mauer jetzt offen sei“ (was zu dem Zeitpunkt so noch gar nicht stimmte). Dieselbe Mauer an der in diesem Winter noch Chris Gueffroy beim Versuch nach Neukölln zu schwimmen erschossen worden war. Hatte ich mich verhört?

Fechtpass mit Eintrag vom Turnier am 11. und 12.11.1989

In der Umkleidekabine angekommen, erzählte ich das gleich herum, dass SFB und RIAS die ganze Zeit senden, die Mauer wäre offen… was mir natürlich niemand glauben wollte. Ich reichte also das Radio weiter und so hatten wir am 9. November 1989 das wohl kürzeste Training aller Zeiten, obwohl am folgenden Wochenende ein wichtiges Berliner Turnier auf dem Programm stand. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Zuhause klebten schon alle vorm Fernseher und auch ich blieb, obwohl am nächsten Tag Schule war, bis spät in die Nacht hinein wach. Als wir dann, es muss nach 21 Uhr gewesen sein, die ersten Bilder live von der Bornholmer Straße, der Glienicker Brücke und vom nahen Ku’damm sahen, gab es erst einmal Kollektivheulen. Aber hinfahren durfte ich nicht, die sechs Kilometer mit dem Rad, wegen des Gedränges und überhaupt müsse man jetzt ja erstmal abwarten.

Am nächsten Morgen waren in der Schule alle vollkommen aus dem Häuschen. Zumindest fast alle. Mareile, Frank und Katharina, die mit ihren Familien erst wenige Monate zuvor nach jahrelangen Repressalien aus der DDR ausreisen durften, waren niedergeschlagen, verheult. Ihre Tränen hatten einen anderen Grund als beim Rest der Klasse. Alles so paradox. An normalen Unterricht war da nicht zu denken. In den kommenden Wochen gab es fast kein anderes Gesprächsthema, wer war an der Mauer, wer hatte sich ein Bruchstück abschlagen können…

Neu gewonnene “Reisefreiheit”

Bis ich dann endlich auch einmal allein „rüber“ konnte, vergingen noch einige Wochen. Zum Einen durften wir erst ab dem Heiligabend 1989 ohne Visum und Zwangsumtausch in die DDR einreisen. Zum Anderen hatte meine Mutter in den Tagen ständig Angst, „die Russen würden kommen“, wenn wir drüben wären, und die Grenzen wieder dichtmachen. Zumindest hatten wir uns zwischen den Jahren als Familie wenigstens getraut, einmal den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz zu besuchen. Geld schwarz getauscht, Würstchen mit Rotkohl bei Eiseskälte essen und wieder zurück.

In den Jahren 1989-91 lag diese Karte bei Familie Matthei stets griffbereit auf dem Tisch. Das Zufallsprinzip entschied darüber, wohin die nächste Entdeckungstour mit Auto oder Bahn ging.

Im Januar hatte ich mich dann mit meinem damals besten Freund einfach in West-Berlin in die U-Bahn gesetzt, war an der Jannowitzbrücke in Ost-Berlin ausgestiegen, für 35 Ost-Pfennig mit der S-Bahn zum Alexanderplatz gefahren – was‘ne Attraktion! – und dann immer den S-Bahn-Bögen folgend vorbei an Antiktrödel und der Humboldt-Universität bis hin zum Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße. Dort dann wieder zurück in die U-Bahn. Das war unsere Stadt und niemand konnte sie uns mehr nehmen!

In den folgenden Monaten hielt uns nichts mehr zurück. Wenn nur ein freier Tag oder Ferien waren, nahmen wir uns eine Landkarte, schlugen blind eine Seite auf und fuhren los. Vom Spreewald über das Oderbruch bis hin zur Ostsee erfuhren wir uns das weite Land um uns herum, das wir vorher nur vom Hahneberg in Spandau aus mit Blick auf den Todesstreifen beobachten konnten. Das Gefühl einfach durch die Mauer gehen zu können, niemand hält dich auf, niemand schikaniert deine Mutter wegen ihres Geburtsortes im „Behelfsmäßigen Personalausweis“, du musst keine Angst haben, dass sie dich wegen irgendeines vorgeblichen Vergehens stundenlang festhalten, was an der Transitstrecke in den Westen schon mal passieren konnte. Dieses Gefühl ist kaum zu beschreiben.

Unser ganz persönlicher Triumph

Der frühe Höhepunkt kam dann im folgenden Sommer, als mein jüngerer Bruder und ich mit unseren Fahrrädern von Spandau bis Zehlendorf über den Todesstreifen fuhren. Für uns ein unglaublicher Triumph. Die Mauern, die uns gefangen hielten einfach frei als Rad- und Fußweg zu benutzen. Ja, die Stadt war für uns wirklich nur noch eine und sie gehörte uns allen. Es schlossen sich die unglaublichen 1990er Jahre in Berlin an… Viele Freundinnen, Freunde und Liebschaften kamen hinzu, Berliner Meisterschaften im Sportforum Hohenschönhausen, neue Gegenden, Reisen in die Heimat meiner Mutter, Studieren in an vier Unis in Berlin-Brandenburg, Arbeit in der Lausitz, Polen, Tschechien… Freiheit!

Berlin zur Zeit des Mauerfalls auf einer zeitgenössischen Karte (Straßen und Reisen 1990/91, Mairs Geographischer Verlag)

Auch hier im Westen lässt mich diese Geschichte bis heute nicht los. So etwa wenn ich den Menschen immer wieder erklären muss, dass wir keine „Wessis“ sind, weil wir nicht zur Bundesrepublik gehörten und auch sonst bei uns einiges anders war und immer noch ist. Und auch merke ich immer noch ein jedes Mal auf, wenn ich mit dem Zug, dem Auto oder zu Fuß die alte Grenze überschreite. Bis heute unglaublich. Kaum zu fassen. Ich darf einfach reisen! Und das nicht nur in Deutschland, sondern in (fast) ganz Europa! Manchmal fahre ich dann auch noch mit der Ringbahn in den Berliner Wedding und gehe zu der Häuserreihe, wo mein Vater mal eine Baustelle hatte, und ich ihn mit drei oder vier Jahren verwundert gefragt hatte, warum denn hier mitten auf der Straße eine Mauer steht und wir nicht einfach weiter können…

(Zur Wendezeit lebte Olaf Matthei-Socha im damaligen West-Berliner Stadtteil Charlottenburg)

forum Kommentare

Kommentare sind geschlossen