Krimiwettbewerb 2. Platz: “Todesengel auf Umwegen”

Diandra Kreimeyer (links) und Julia Mahler, Inhaberin der "Stoffquelle" (rechts) bei der Preisübergabe

Von Nadine Lahn | 14.10.2020 21:10 | Keine Kommentare

Beim Krimi-Kurzgeschichtenwettbewerb, den meinstutensee.de im Sommer durchführte, konnte Diandra Kreimeyer die meinstutensee.de-Redaktion mit ihrer Geschichte “Todesengel auf Umwegen” überzeugen und darf sich nun über den 2. Platz freuen! Als Preis erhielt sie von Julia Mahler von der Stoffquelle Friedrichstal eine Taschennähset – herzlichen Glückwunsch!

Viel Spaß beim Lesen:

Todesengel auf Umwegen

„Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines Notfalleinsatzes am Blankenlocher Bahnhof hat dieser Zug derzeit eine Verspätung von 10 Minuten. Wir bitten Sie, dies zu entschuldigen. Wir setzen unsere Fahrt in Kürze fort. Reisende und umsteigende Fahrgäste achten bitte auf die Durchsage am Bahnsteig.“

Katelin rieb sich erschöpft und leicht genervt die Augen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie zückte ihr Handy: 20:10 Uhr. Erst dauerte es heute schon wieder länger im Büro, und jetzt hatte der Zug auch noch Verspätung, wodurch sie ihre Lieblingsserie vielleicht auch noch verpassen würde. Auch die anderen Zugfahrer saßen resignierend und erschöpft in ihren Sitzen.

„Entschuldigen Sie bitte …“, fragte ein Mann, als Katelin gerade wieder ihre Kopfhörer aufziehen wollte, „können Sie mir sagen, wann der Zug nun in Blankenloch ankommen wird?“

„Ja, natürlich. Einen Moment, ich schaue kurz nach.“

„Oh, haben Sie vielen Dank! Mein Akku ist leider leer und ich wollte noch jemanden heute Abend besuchen.“

„Kein Problem“, lächelte sie freundlich zurück und hoffte, der Unbekannte würde danach verschwinden. Daraus sollte jedoch nichts werden, er setzte sich ihr gegenüber und begann ein unverfängliches Gespräch über die Deutsche Bahn, seine Arbeit und spekulierte über den Notfalleinsatz am Blankenlocher Bahnhof. Ein anderer Fahrgast im nebenliegenden Vierersitz blickte ab und zu vorsichtig und hektisch zu ihnen. Immer, wenn Katelin seinen Blick wahrnahm und ihn anschauen wollte, tat er so, als wäre nichts und senkte seinen Blick.

„Nächster Halt: Blankenloch, heute mit circa 25 Minuten Verspätung auf Gleis 3. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, ertönte die Durchsage.

„Dann Ihnen einen schönen Abend noch“, wollte sich Katelin verabschieden, doch der Unbekannte stand ebenfalls auf.

„Ich muss hier auch raus. Übrigens heiße ich Nate“, erklärte er und Katelin fiel wieder ein, dass er sie vorhin ja genau nach der Ankunft am Blankenlocher Bahnhof gefragt hatte. Sie nahm ihre Tasche und begab sich zur Tür. Der Mann von vorhin, der sie die ganze Zeit beinahe panisch angeschaut hatte, stand bereits an der Tür.

Nate redete munter weiter: „Sind Sie neu hier in Blankenloch?“

„Ja, tatsächlich bin ich erst seit wenigen Monaten hier.“

Während sie sich weiter unterhielten, fuhr der Zug auf Gleis 3 ein. Dabei bremste er so stark, dass dem Mann vor Katelin etwas kleines rechteckiges auf den Boden fiel. Katelin bückte sich danach, war aber langsamer als Nate, der die Karte vor ihr erfasste und sie dem Mann freundlich zurückgab.

„Hier, bitte sehr, Ihnen ist Ihre Jahreskarte wohl heruntergefallen.“

Der Mann bedankte sich tonlos und hatte plötzlich Schweißperlen auf der Stirn. Ob mit ihm wohl alles in Ordnung war? Katelin wollte den Mann eigentlich noch fragen, ob er sich nicht wohlfühlte, da ging bereits die Zugtür auf und der etwas ältere Herr rannte die Treppen beinahe herunter und eilte in die Nacht davon. Ungläubig schaute Katelin ihm hinterher.

„Alles in Ordnung?“, fragte Nate und riss Katelin wieder aus ihren Gedanken.

„Ja, natürlich.“

Sie liefen die Treppen hinunter und verabschiedeten sich schließlich. Gedankenversunken lief Katelin die Stufen zu Gleis 1 hinauf. Dort standen noch der Notarzt- und Krankenwagen und ein Mann mittleren Alters wurde mit einer Trage gerade in den Krankenwagen gebracht. Zügig lief sie nach Hause. Endlich hatte sie ihren wohlverdienten Feierabend und es war Wochenende! Sie hängte ihren Mantel auf und schaltete den Fernseher ein. Während die letzten Minuten ihrer Lieblingsserie liefen, räumte sie ihre Tasche auf und machte sich daran, ein leckeres Abendessen für sich zu kochen. Nachdem sie ein bisschen entspannt hatte und alle Mails und Chatfragen beantwortet waren, beschloss sie, eine kurze Liste mit Erledigungen für das Wochenende zu schreiben. Sie suchte nach ihrem Kugelschreiber in der Manteltasche.

„Verdammt, wo ist er nur?“, egal wo sie suchte der Kugelschreiber ihres Großvaters war verschwunden. „Oh nein, nicht das noch!“, der Kugelschreiber war eine Art Glücksbringer für Katelin und ein Symbol der Verbundenheit zu ihrem Großvater und dem Journalismus. Nun war er verschwunden. Bei seinem letzten Verschwinden hatte sie eine regelrechte Pechsträhne erlitten. Einfach alles war danach schiefgelaufen sowohl in ihrem Beruf fehlten plötzlich Unterlagen als auch daheim fiel ihr eine Vase herunter und das Essen brannte ständig an. Da sie solche Szenarien in nächster Zeit lieber nicht erneut erleben wollte, entschied sie sich, ihn gleich zu suchen. Doch wo sollte sie anfangen? Katelin beschloss zuerst am Bahnhof zu suchen, schließlich war dies der letzte Ort, an dem sie heute war.

Sie zog ihren Mantel und ihre Schuhe an. Inzwischen war es schon kurz nach Mitternacht. Keine gute Zeit, wenn man zu viele Gruselgeschichten gehört und gelesen hatte.  Der Wind strich ihr eisig durch die Haare, in der Stille der Nacht fühlte sie sich immer unwohl und beobachtet. Alles war menschenleer. Ein paar Laternen leuchteten und ihr eigener Schatten fühlte sich bedrohlich an. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit und das Zirpen der Grillen wurde immer lauter und schneller. In solchen Situationen würde sie am liebsten die Zeit anhalten und aus der Situation flüchten. Doch jetzt wieder umzukehren, wo sie noch wenige Meter vom Bahnhof entfernt war und den Schrecken schon fast hinter sich gebracht hatte, wäre sinnlos. So machte sie sich selbst Mut, einfach zügig weiterzugehen. In der Ferne hörte sie einen Hund jaulen und ein paar Katzen fauchten im Gebüsch. Sie wusste nicht warum, aber immer, wenn sie in dunklen Nächten draußen unterwegs war, schlich sie so leise sie konnte durch die Ortschaft. Vorsichtig suchte sie den Bahnhofsbereich zu Gleis 1 ab. Sicherheitshalber kroch sie auch halb unter die Büsche, falls jemand vielleicht ausversehen während des Vorbeigehens ihn dort hineingetreten hätte. Doch vergebens. Hier oben schien der Kugelschreiber nicht zu sein. Sie wollte gerade die Treppen neben dem Aufzug hinunter gehen, als sie merkwürdige flüsternde Stimmen vernahm.

„Na, glaubst du mir jetzt?!“, flüsterte einen zornige Stimme. „Ich habe dich gewarnt!“, wenn du meine Forderungen nicht erfüllst, dann blüht dir das gleiche!“

„Ja, aber ich kann doch nicht…“

„Du hast noch bis Montagabend Zeit! Sonst ist es vorbei!“

Ein lauter Knall ertönte. Eine Schusswaffe?! Katelin konnte nicht glauben, was da unten vor sich ging. Der Knall wurde übertönt von einem vorbeirauschenden Güterzug. Katelin war starr vor Angst und ihre Knie wollten sie nicht mehr tragen. So gut sie konnte, krabbelte sie zum Ticketschalter und presste sich gegen die Wand. Was, wenn dieser Wahnsinnige hier hochkommen würde? War dort unten nun eine Leiche? Konnte man dem Mann noch helfen? Oder sollte sie einen Krankenwagen rufen? Wenn sie jetzt ihr Handy rausnehmen würde, dann würde sie entdeckt werden. Katelin traute sich nicht. Sie wartete. Einige Minuten später hörte sie Schritte. Die Person kam tatsächlich die Treppe hinauf. Katelins Herz setzte für einen Schlag aus, als sie vor Schreck die Luft anhielt. Der Schatten näherte sich ihr. War es nun für sie vorbei? Sie fühlte sich innerlich vollkommen leer.

„Wie konnte es nur soweit kommen?“, hörte sie den Schattenmann sagen.

Er trat in den Lichtkegel. Sie erkannte die Person sofort. Es war der Mann, der im Zug so panisch und hektisch gewirkt hatte, Winfried Garon, zumindest laut seiner Jahreskarte. Er schaute in den Himmel, und wie aus dem Nichts begann es zu regnen. Der Mann verharrte für ein paar Minuten in der Position und ging dann weiter.

Katelin saß noch immer vollkommen perplex, ängstlich und verwirrt neben dem Automaten. Es dauerte bis zur Dämmerung, bis sie sich aus dieser Starre lösen konnte. Vorsichtig begab sie sich zur Unterführung. Was, wenn dort wirklich jemand lag? Sie versuchte tief durchzuatmen, Stufe für Stufe näherte sie sich. Sie lehnte sich gegen die Wand.

„Okay auf drei. Eins, zwei, drei …“, sie lugte in den Unterführungsteil des Bahnhofes und konnte nichts entdecken. Erleichterung breitete sich in ihr aus. „Zumindest keine Leiche.“

Ihren Kugelschreiber hatte sie völlig vergessen. Erschöpft schleppte sie sich zu ihrer Wohnung. So viel Aufregung war einfach zu viel. Kaum war sie daheim, legte sie sich erst einmal schlafen. Mitten am Tag wachte sie erneut auf, ein Albtraum hatte sie geweckt. Sollte sie die Polizei anrufen? Würden die ihr überhaupt glauben? Schließlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich vielleicht doch alles einbildete. Es half alles nichts. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr zum Stutenseebad.

Während des restlichen Wochenendes versuchte sie, die ganze Situation einzuschätzen. Wie viel von jener Nacht war wirklich passiert und was schuldete sie ihrer Fantasie?

Als sie Montagmorgen die Zeitung aufschlug, wurde von dem Todesfall eines Mannes mittleren Alters berichtet, der am Blankenlocher Bahnhof einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte und Sonntag im Krankenhaus einem weiteren erlag. Sie hatte fast ihre Kaffeetasse fallen lassen, diese Person musste irgendwie mit diesen anderen beiden jener Nacht in Verbindung stehen. Doch alles, was sie über den Mann in Erfahrung bringen konnte, war sein Beruf. Ein stinknormaler KFZ-Mechaniker. Vielleicht doch nur Zufall? Katelin beschloss, sich an die Polizei zu wenden und erzählte ihnen alles, was sie beobachtet und gehört hatte. Ein Kollege würde später mit ihr sprechen, hieß es schließlich am Telefon.

Heute auf der Arbeit lief alles schief. Ihr Chef stauchte sie für ein paar Tippfehler, welche ihr in der Eile unterlaufen waren, zusammen, ihre Kollegin durfte die Klatsch- und Tratschspalte schreiben, für die sie unendlich viele Ideen hatte und der Stapel auf ihrem Schreibtisch wollte auch nicht weniger werden. Das Wochenende saß ihr noch schwer in den Knochen und ihre Gedanken wollten nicht still sein. Auch heute kam sie entsprechend spät aus der Arbeit.  

„Guten Abend!“, Nate gesellte sich zu ihr, „Schön sie wiederzusehen.“

Dieser Nate hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt. Doch Katelin blieb höflich, schließlich war er nicht schuld an dem, was sie erlebt hatte.

„Sie scheinen auch immer lang zu arbeiten.“

„Ja, manchmal geht es eben nicht anders. Aber ich freue mich wirklich, Sie wiederzusehen. Sie sind mir das ganze Wochenende nicht aus dem Kopf gegangen und dabei kenne ich nicht einmal ihren Namen.“

„Katelin“, antwortete sie fast steif, da sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.

„Ein wirklich schöner Name.“

Sie einigten sich darauf, sich ab sofort zu duzen.

„Wenn du möchtest, kann ich dir die schönen Ecken von Blankenloch und Stutensee gerne einmal zeigen. Zum Beispiel den Blankenlocher See oder den See bei Spöck oder warst du schon im Vogelpark? Eine wahrhaft wunderschöne Anlage.“

Nate kam aus dem Schwärmen fast gar nicht mehr heraus. Katelin war das gerade recht. Sie war viel zu kaputt, um zu erzählen oder ein gezwungenes Gespräch zu führen.

„Nächster Halt: Blankenloch. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“

„Die Fahrt geht einfach viel schneller rum, wenn man sich mit jemandem unterhalten kann“, freute sich Nate, und sie begaben sich in Richtung Tür. Katelin erschauderte plötzlich, sie bekam Gänsehaut. Dort war wieder dieser Winfried Garon. Sie wusste nicht, ob er der Drohende oder der Bedrohte war.

„Geht es dir gut?“, fragte Nate, der ihr Zögern durchaus bemerkte.

„Ja ich dachte nur, ich kenne diesen Mann von letzter Woche.“

„Ach ja? Gut möglich. Er fährt auch immer um diese Uhrzeit mit dem Zug.“

Auch Winfried schien sie wiederzuerkennen und blickte panisch, so schnell wie er konnte, weg. Hatte er sie in der Nacht vielleicht doch bemerkt oder warum reagierte er erneut so eigenartig? Da der Zug heute etwas voller war, standen sie dichter als Katelin lieb war an Winfried Garon. Die Zugtür öffnete sich und Katelin erwartete von ihm wieder einen fluchtartigen Abgang. Doch als die Tür offen war und er einen Schritt machen wollte, fiel er vornüber und lag mitten auf dem Boden zwischen Zug und Bahnsteig. Entsetzliche Aufschreie gingen durch den Zug. Katelin war fassungslos.

„Er regt sich nicht“, sagte sie leise.

Sie rüttelte an ihm: „Wachen Sie auf Herr Garon, kommen sie schon!“, verzweifelt versuchte sie es weiter. Nate gesellte sich zu ihr und versuchte seinen Puls zu fühlen: „Er ist tot.“

„Schnell, jemand muss einen Krankenwagen rufen! Worauf warten Sie denn noch?“

Ein Mann versuchte es mit Erster Hilfe, doch vergebens. Der Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Die Polizei kam ebenfalls an den Bahnhof. Getuschel ging durch die Menschenmenge: „Was, die Polizei ist auch hier?“ „Heißt das nun, es war Mord?“ „Was, hier in Blankenloch?“ „Was gibt es denn hier für Verrückte?“ „Wir bitten Sie alle Ruhe zu bewahren. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie alle und bitten um ihre Mitarbeit. Sobald wir sie befragt haben, dürfen Sie gehen. Wir bitten Sie allerdings, für weitere Fragen uns Ihre Personalien mitzuteilen.“

Nate war einer der ersten, die befragt wurden. Er hatte keinerlei Bezug zum Opfer und kannte ihn nur vom Sehen im Zug. Nate schien noch auf Katelin zu warten. Sie war als nächstes an der Reihe.

„Wie ist ihr Name?“

„Katelin Grace.“

„Standen Sie in irgendeiner Beziehung zu dem Verstorbenen?“

„Nun nicht direkt, ich bin erst neu hierhergezogen, allerdings habe ich Sie bereits bezüglich des Mannes kontaktiert.“

„Ah, ich weiß, von was Sie sprechen. Dann wird mein Kollege Ihnen gleich genauere Fragen bezüglich der Nacht stellen. Warten Sie bitte gerade dort vorne.“

Katelin tat, was ihr aufgetragen wurde.

Nate kam zu ihr: „Was ist nun? Wirst du verdächtigt oder warum musst du hier warten?“

„Nun ich habe mitbekommen, dass dem Mann gedroht wurde.“

Nate sah sie erstaunt an.

„Huch!“, einer Frau war eine Einkaufstüte umgefallen.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bat Katelin gleich ihre Hilfe an.

„Komm mit“, forderte Nate Katelin auf, als sie die Tüte der alten Dame zurückgegeben hatte.

„Was ist denn los, Nate?“

„Ich muss dir unbedingt etwas erzählen, ich weiß nicht wie ich es in Verbindung mit dem Fall hier steht, aber ich habe etwas sehr Verdächtiges gefunden, nur will ich mich selbst damit nicht verdächtig machen.“

„Ja, aber dann wende dich doch direkt an die Polizei.“

„Erst wenn du auch sagst, dass es wichtig ist. Du bist doch Journalistin oder nicht? Du weißt, wie schnell falsche Neuigkeiten verbreitet werden können.“

„Ja, aber trotzdem, wir sollten es der Polizei zeigen.“

„Noch nicht“, er zog sie unsanft mit sich. „Wir sind ja gleich wieder zurück.“

„Aber ich muss noch meine Aussage machen.“

„Kannst du ja noch. Aber später.“

Nates Blick hatte sich geändert. Von dem freundlichen jungen Mann war nicht mehr viel wiederzuerkennen. Er zerrte sie in Richtung der Unterführung.

„Nate, hör bitte auf, das hier ist kein Spaß mehr, du tust mir weh.“

„Gib mir einen Moment noch, dann wird sich alles klären.“

Kaum waren sie aus der Unterführung draußen, drängte er sie zu seinem Wagen. Ich erzähle es dir hier drin.“

„Wenn du mich nicht sofort loslässt, werde ich schreien.“

„Das muss doch nicht sein. Er zog sie schnell zu sich und schlug ihr kräftig in den Bauch, sodass sie kurzzeitig auf ihm zusammensackte. Von außen sah es aus, als würden sie sich umarmen. Katelin schnappte nach Luft. Er nutze den Moment und zwängte sie in seinen Wagen. Dort drückte er ihr ein Tuch aufs Gesicht. Katelin wurde bewusstlos.

Als sie wiedererwachte, saß sie in einem dunklen Raum an einen Stuhl gefesselt.

„Endlich bist du wieder aufgewacht.“

Katelin konnte nicht antworten, da er ihr den Mund mit Klebeband zugeklebt hatte.

„Ich hatte wirklich Hoffnung, weißt du, Katelin. Du hast mir wieder Hoffnung gegeben, nachdem ich fast alles verloren hatte, aber dann, dann musstest du dich in etwas einmischen, was dich gar nicht betrifft. Was soll ich denn nun tun? Es ist alles zu spät. Und damit ich nicht auffliege, musst du jetzt auch noch verschwinden. Was hattest du überhaupt, um diese Uhrzeit am Bahnhof zu suchen? Sag mir bitte, es war nicht dieser dämliche Kugelschreiber.“

Katelin sah den Kugelschreiber an und nickte dann.

„Das darf doch nicht wahr sein. Warum passiert immer mir so etwas? Ich hatte den Kugelschreiber gefunden, als ich abends an den Bahnhof zurückkam. Ich wusste, dass er dir gehört und dachte, ich kann ihn dir bei unserem nächsten Treffen wiedergeben. Es hätte alles so gut laufen können mit uns beiden. Aber dann kommst ausgerechnet du in dieser Nacht an den Bahnhof und siehst diesen Vollidioten Winfried Garon. Wieso nur?!“, wütend schlug Nate mit seiner Faust gegen die Wand. „Weißt du, ich will dich nicht töten, und ich bin auch kein kaltblütiger Mörder, aber die Menschen tun einem einfach manchmal Dinge an, sodass man keinen Ausweg mehr sieht.“

Katelin hatte das Gefühl, er redete sich um Kopf und Kragen. Doch sie war erschüttert von dem, was sie da hörte. Sie hatte Nate bisher gar nicht in Betracht gezogen, doch nun wurde ihr klar, weshalb dieser Winfried sie so panisch und unsicher beäugt hatte, er fürchtete um sein Leben! Nach welchem ihm Nate offensichtlich trachtete. Doch warum? Aus Nate sprudelte alles förmlich heraus.

„Siehst du dieses Bild hier?“, er zeigte ihr ein Bild von sich, vermutlich seinen Eltern und seiner Schwestern. „Da haben alle noch gelebt. Doch vor drei Monaten war dieses Leben vorbei. Meine Eltern waren mit meiner Schwester unterwegs und ein betrunkener Autofahrer kam ihnen als Geisterfahrer auf einer engen Straße entgegen. Sie hatten keine Chance. Meine Eltern waren auf der Stelle tot. Meine Schwester lebte zu dem Zeitpunkt noch. Doch dieser Mistkerl hat einfach Fahrerflucht begangen. Nicht einmal einen Krankenwagen hat er gerufen. Die Operationen meiner Schwester waren aufgrund der Unfallschäden schwer und kompliziert. Sie musste ins künstliche Koma versetzt werden. Dann gab es Anfang des Jahres die Gesetzesänderung im Gesundheitssystem, sodass nun 65 Prozent der Kosten selbst zu tragen sind. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Beträge dabei auf mich zukamen. Ich konnte die Rechnungen nicht mehr zahlen. Wenn ich nicht bald das Geld der Lebensversicherung meiner Eltern bekomme, wird auch sie sterben, weil dann die Geräte abgestellt werden müssen“, Nate liefen Tränen über die Wange. „Kurz später habe ich den Mistkerl getroffen, der mir all das angetan hat. Er war angetrunken und erzählte einem Kumpel stolz, wie er besoffen die kleine Straße entlanggefahren war und dabei ein Auto gerammt hatte. Erst hörte ich mir alles an, dann bat ich ihn, sich zu stellen, doch dieser arrogante Kerl lachte mich nur aus und war sich keiner Schuld bewusst. Letztlich drohte ich ihm, wenn er sich nicht stellte und Verantwortung für seine Taten übernahm, würde er es mit seinem Leben büßen müssen. Doch er nahm mich nicht ernst. Erst wollte ich meinen Plan verwerfen, doch als dann Winfried Garon mir mitteilte, die Lebensversicherung meiner Eltern wird vorerst nicht ausgezahlt werden können, wurde mir alles zu viel. Ich zeigte die Fahrerflucht bei der Polizei an, jedoch hatte der Fahrer urplötzlich ein Alibi, das natürlich erlogen und erstunken war. Winfried setzte ich unter Druck, damit er trotz aller Ermittlungen das Geld der Lebensversicherung ausstellte, doch auch er gab nicht nach und ich beschloss, ihn dafür büßen zu lassen. Ich wollte nicht, dass er stirbt, ich wollte ihm doch nur eine Lektion erteilen. In vier Tagen stellen sie die Geräte meiner Schwester ab, wenn ich nichts tue. Ich habe einfach alles verloren.“

Katelin hörte schockiert zu. Sie konnte durchaus seinen Schmerz verstehen, aber seine Handlungen rechtfertigten seine Taten keinesfalls. Was würde er nun mit ihr tun? Würde er sie ebenfalls ermorden? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sprach er weiter: „Ich brauche Zeit, um zu überlegen, was ich jetzt mit dir mache. Bis dahin wirst du mit meinem Keller vorliebnehmen müssen. Es tut mir wirklich leid.“

In diesem Moment läutete es an der Tür. „Wer kann das wohl sein?“ Nate wischte sich die Tränen weg und versuchte sich wieder zu fassen. „Ich bin gleich zurück.“

Nate öffnete die Tür: „Guten Abend, was kann ich für sie tun?“

„Guten Abend, wir haben noch ein paar Fragen an Sie. Hätten sie einen kurzen Moment Zeit?“

„Ja, natürlich, selbstverständlich.“

„Ja, das ist der junge Mann!“, hörte Nate eine ältere Frauenstimme sagen. Nate wusste nicht, wie ihm geschieht. Der Polizist griff nach seinem Arm und drückte Nate auf den Boden, um ihm Handschellen anzulegen.

„Sie sind festgenommen wegen Entführung und Mordverdacht. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird gegen Sie verwendet werden. Wo befindet sich Katelin Grace?“

„Sie ist unten im Keller, ich habe ihr nichts getan!“, presste Nate unter Tränen heraus.

Der Polizist schickte weitere Kollegen in das Haus. Sie fanden Katelin und banden sie los. Katelin war unfassbar erleichtert, als die Polizisten ihr die Fesseln abnahmen und sie von ihrem Klebeband befreiten. Niemals hätte sie gedacht, in solch eine prekäre Lage zu gelangen. Katelin wurde aus dem Haus herausgeführt, an Nate vorbei.

Sie hörte ihn noch sagen: „Ich gestehe alles. Ich wollte das alles nicht, man hat mich dazu getrieben, ich wusste einfach keinen Ausweg mehr. Ich bin kein Unmensch!“

Nate sah Katelin, als sie schon ein Stück entfernt war: „Es tut mir so leid Katelin, bitte denk nicht schlecht von mir, aber was hätte ich denn tun sollen?“ Tränen erstickten seine Stimme.

„Ah, es freut mich sehr, dass es ihnen gut geht“, kam die ältere Dame zu Katelin.

Es war jene, welcher Katelin vorhin mit der Einkaufstüte geholfen hatte. „Ich hatte gesehen, wie dieser junge Mann Sie vom Schauplatz weggezerrt hat und habe nur gehört, dass sie ihn Nate nannten. Als die Polizei Sie dann für weitere Befragungen suchte und Sie immer noch nicht zurückwaren, habe ich Ihnen von dem Vorfall erzählt und ich bin froh, dass ich auf meinen Bauch gehört habe.“

„Haben Sie vielen Dank!“, umarmte Katelin die Dame und hatte Tränen in den Augen. „Ich weiß nicht, wie es mit mir weitergegangen wäre, wenn Sie nicht so aufmerksam gewesen wären.“

Katelin wurde für weitere Befragungen mit auf die Polizeiwache genommen. Nachdem sie versicherte, es ginge ihr gut und auch alle Aussagen getroffen waren, schrieb sie einen Spendenaufruf für die Zeitung, die Facebookseite ihrer Zeitung, deren Instagram- und Twitteraccount. Dort schilderte sie den dramatischen Schicksalsschlag eines Mädchens, welches unverschuldet durch die Fahrlässigkeit anderer nun um sein Leben bangte und mittelos war. Der Aufruf verbreitete sich in Windeseile und zwei Tage später war die Summe bereits erreicht und das Mädchen konnte somit weiter am Leben gehalten werden, bis sie schließlich zwei Wochen später aus dem Koma erwachte. Nate, der mittlerweile im Gefängnis saß, bekam alles in den Medien mit und war Katelin für ihren Einsatz unendlich dankbar. Er schämte sich zutiefst für seine Taten, war aber froh, dass seine kleine Schwester noch lebte.

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